- Faktor Druk will Buchbinderei wieder aufbauen
- sieben Tote, zwei Personen in lebensbedrohlichem Zustand
- Wiederaufbau wird etwa 5 Millionen Euro kosten
- Multimillionär aus den USA will helfen
Das große Tor zur Druckerei öffnet sich. Der Pförtner winkt uns rein. Geschäftsführerin Tatyana Grinyuk und ihr Druckvorstufenchef Alexey Sobol empfangen uns auf dem Innenhof. Es scheint, als seien wir die Einzigen auf dem Firmengelände. Niemand mehr hier, denke ich.
Direkt nach der Begrüßung sagt Grinyuk: „Wir sind heute alleine, es ist Samstag.” Ich muss nachfragen, ob das der alleinige Grund ist. Überraschenderweise bestätigt sie: Der Betrieb geht unter der Woche normal weiter.
Die erste Rakete schlug neben der Druckerei ein.
Wir gehen durch einen Seiteneingang ins Gebäude. Es riecht verbrannt. Ein halb demolierter Flur führt an den Ort des Raketeneinschlags: die Buchbinderei. Wir gehen hinein und treten gleichzeitig auch wieder ins Freie – denn die Produktionshalle hat nun eine riesige Öffnung. Das Dach ist aufgerissen, eine Wand wurde durch die Explosion nach außen weggeklappt. Auf dem Boden liegen Mauersteine, verbogene Metallschienen und verbrannte Buchseiten.
Ich war zu Beginn der russischen Invasion schon einmal an diesem Ort und denke zunächst, diese Halle damals nicht gesehen zu haben. Unter den Trümmern liegen große und kleinere Bindemaschinen. Sie verbinden die Inhaltsseiten eines Buches mit den Umschlagseiten – also dem Cover. Ich frage, wo die sieben Mitarbeitenden standen, die heute nicht mehr leben, und Grinyuk zeigt ohne nachzudenken mit dem Finger auf die Trümmer. Einer dort, eine dort, eine dort … Am Ende ihrer Aufzählung fragt sie: „Du kannst dich nicht an diesen Ort erinnern?“ Ich verneine und suche auf meinem Handy nach Bildern von damals.
Grinyuk guckt auf mein Handy und sagt: „Dieses Foto ist genau hier entstanden. Schau!”
Wir laufen über die Trümmer. Tausende Buchseiten liegen verbrannt auf dem Boden. Aber sie sind nicht staubig, sondern nass und verklebt – vom Löschwasser der Feuerwehr. Auf einer Kinderbuchseite sind zwei Füchse zu sehen. Ein anderes Buch wurde von einem ukrainischen Soldaten geschrieben. Und in der größten Bindemaschine hängen Reste von Kosmosu – einem Kinderbuch über das Weltall.
Auch der orange Hubwagen vom alten Bild findet sich wieder – von Staub, Trümmern und Buchseiten bedeckt. Die Person, die ihn bedient hat, lebt nicht mehr. Alle Personen, die am direkten Einschlagsort gearbeitet haben, leben nicht mehr. Die 14 Mitarbeitenden, die in Nachbarräumen gearbeitet haben, wurden schwer verletzt. Einige befinden sich in lebensbedrohlichem Zustand.
Geschäftsführerin Tatyana Grinyuk hält ein halb verbranntes Kinderbuch.
Grinyuk und Sobol beantworten mir jede noch so bedrückende Frage – in Ruhe, aber auch verzweifelt. Sind die Mitarbeitenden ersetzbar? Nein. Sind sie nicht. Manche von ihnen haben 20 Jahre in dieser Druckerei gearbeitet. Sie kannten ihre Maschinen, waren Fachkräfte, die man weder menschlich noch fachlich ersetzen kann. Trotzdem will Grinyuk die Buchbinderei wieder aufbauen – irgendwie.
Zum jetzigen Zeitpunkt muss herausgefunden werden, wie viele Maschinen sich noch reparieren lassen. Beim bloßen Anblick der Produktionshalle hat man den Eindruck, dass hier gar nichts mehr repariert werden kann, aber Grinyuk will abwarten, will alles abklären lassen. Die Hoffnung bleibt, dass nicht alles verloren ist. Das größere Problem seien die fehlenden Mitarbeitenden, betont sie noch mal.
Der Leiter der Druckvorstufe, Alexey Sobol, in der zerstörten Buchbinderei von Faktor Druk
Die Reparaturkosten schätzt die Geschäftsführerin auf fünf Millionen Euro. Mir schießen die 50.000 Euro durch den Kopf, die KATAPULT-Lesende für die Druckerei gespendet haben. Vielleicht können davon wenigstens die fehlende Wand und das Dach repariert werden, denke ich, und Grinyuk bedankt sich, als könnte sie Gedanken lesen: „Wir sind sehr dankbar für eure Hilfe, ihr wart die Ersten, die sich gemeldet haben.” Mittlerweile hat der US-amerikanische Milliardär Howard Buffet öffentlich bekundet, der Druckerei finanziell helfen zu wollen. Er ist der Sohn des Investors Warren Buffet.
Der ukrainische Präsident Selensky stand einen Tag nach dem Einschlag vor dem Tor und sprach mit der Geschäftsleitung, machte ein Foto und gab einer chinesischen Zeitung ein Interview. Viele interpretieren den Angriff auch als Anschlag auf die westliche Kultur, gegen das Medium Buch, gegen die Meinungsfreiheit. Ich frage Grinyuk, ob sie glaubt, dass das russische Militär sie gezielt angegriffen haben könnte, und sie antwortet: „Das weiß niemand, das Ziel könnte auch die Bahntrasse gewesen sein”, die am Betriebsgelände der Druckerei entlangführt. Für eine Betroffene ist das eine unfassbar rationale Antwort, die aber durchaus plausibel ist.
Das Buch eines ukrainischen Soldaten
Insgesamt sind drei Raketen bei Faktor Druk eingeschlagen. Neben der Buchbinderei schlug eine zweite Rakete auf dem Hinterhof ein und riss einen etwa fünf Meter breiten Krater in den Boden. Die dritte Rakete traf ein Feld, auf dem sich Schutt befand. Alle drei Einschlagsorte befinden sich parallel zur Bahntrasse, aber eben ein paar Meter versetzt.
Beim Gang über das Gelände zeigt Grinyuk auf einen kleinen Schuppen und sagt: „Da haben wir die Leichen hingelegt, damit die Journalisten sie nicht fotografieren können.” Im Internet kursieren Videos, auf denen Grinyuks Mitarbeiter leblos aus der Halle gezogen werden. Auch wir hatten so ein Video mit Triggerwarnung geteilt. Für eine schnelle Hilfe, die Spenden, das Verständnis ist das hilfreich, aber in diesem Moment wird mir klar, wie schwer es für die Mitarbeitenden und Bekannten gewesen sein muss, diese Bilder zu sehen. Mir wird auch klar, dass die ukrainischen Leute, die hier arbeiten und diesen Betrieb leiten, dass diese Leute einfach funktionieren – egal ob die Stadt bombardiert wird und unter russische Kontrolle geraten würde oder sieben Prozent der Mitarbeitenden getötet werden – sie funktionieren.
Dieser Schuppen wurde zur Leichenhalle umfunktioniert, damit Journalisten keine Fotos machen können.
Auf dem Weg zum Auto frage ich, ob es denn auch Mitarbeitende gebe, die nun gar nicht mehr arbeiten wollen, die also nicht nur samstags fernbleiben, sondern auch wochentags. Diesmal antwortet Grinyuks Kollege: „Sie weinen viel, sie weinen sehr viel – aber sie wollen alle weitermachen – den Kollegen zu Ehren, die auch wochentags nie wieder zur Arbeit kommen werden.”
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