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Neutralität

Österreich wurstelt sich weiter durch

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In Österreich gibt es zwei „heilige Kühe“, die politisch nicht angetastet werden und das Land geopolitisch prägen. Eine davon ist die Atomkraft. Vor allem seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in der damaligen Sowjetunion verfestigte sich in Österreich eine regelrechte Phobie vor der Kernenergie. Ihren bisherigen Gipfel fand diese im 1999 einstimmig beschlossenen Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich. Nicht nur atomenergie- oder atomwaffenfrei, sondern gänzlich „atomfrei“ sollte Österreich also sein, was Physikerinnen und Chemiker bis heute amüsiert. Das Nein zu Atomstrom trug aber auch zu einer gewissen Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland bei, in die man sich trotz reichlich vorhandener Wasserkraft im Westen des Landes und Wind- wie Sonnenenergie im Osten hineinmanövrierte. Hauptverantwortlich dafür waren die beiden Großparteien der Zweiten Republik seit 1945, die christdemokratische ÖVP und die sozialdemokratische SPÖ, im Verbund mit einer stets russlandaffinen Wirtschaft und langfristigen Lieferverträgen. Zwischen Januar und August 2024 pendelte der Anteil Russlands an den österreichischen Gasimporten zwischen 81 und 98 Prozent.

Die zweite „heilige Kuh“, die niemand zu schlachten wagt, ist die Neutralität. Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war sie nach zähen Verhandlungen der Schlüssel zum Ende der Besatzung der vier Siegermächte (USA, Frankreich, Vereinigtes Königreich und Sowjetunion) und der Weg zurück zum souveränen Staat für die einstige europäische Großmacht Österreich. Im sich entwickelnden Kalten Krieg war Österreich beiden Seiten zu wichtig, um es der anderen zu vergönnen, und keiner Seite wichtig genug, um dafür einen militärischen Konflikt zu riskieren. Also entließ man das kleine Österreich in die Bündnisfreiheit.

Die „immerwährende militärische Neutralität“ nach Schweizer Vorbild wusste das politische Österreich gekonnt einzusetzen. Als „Brücke zwischen Ost und West“ boxte man diplomatisch und außenpolitisch weit über der eigenen Gewichtsklasse, konnte etwa eine Vielzahl internationaler Organisationen in der Hauptstadt ansiedeln. Wien „bespielte“ Washington wie Moskau zum eigenen Nutzen gleichermaßen. Für Österreich lief das jahrzehntelang hervorragend, ehe man sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach einer neuen außen- und sicherheitspolitischen Strategie umsehen musste.

Die EU war das erklärte Ziel, die Nato aufgrund der „identitätsstiftenden Neutralität“ vielen noch immer ein rotes Tuch. Die rechtsgerichteten Parteien forcierten Ende der Neunzigerjahre den Beitritt zu Europäischer Union und Nato. Es blieb jedoch bei der EU-Mitgliedschaft und schon bald waren sich fast alle wieder einig, dass man an der Neutralität festhalten wolle. Lediglich die liberalen Neos rütteln heute offen an jener sicherheitspolitischen Strategie, die einst bedeutsame neutrale Staaten wie Finnland und Schweden nach der russischen Vollinvasion der Ukraine neu bewertet und aufgegeben haben. Sind die Mikros der Journalisten abgeschaltet, schlagen jedoch auch viele Vertreter der anderen Parteien längst andere Töne an. Gewichtige Stimmen aus Politikwissenschaft, Militär, Wirtschaft, Journalismus und Kunst fordern seit 2022 vehement eine ehrliche und ernsthafte Debatte über die österreichische Neutralitäts- und Sicherheitspolitik – bisher vergebens.

Österreich, das bis auf die ebenfalls neutrale und Wien wohlgesinnte Schweiz und Liechtenstein nur von Nato-Staaten umgeben ist, wird ob seiner geografischen Lage oft sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei vorgeworfen. Immerhin kann niemand Österreich angreifen, ohne die Grenzen oder den Luftraum eines Nato-Staates zu verletzen. Nicht nur durch das Partnership-for-Peace-Programm der Allianz, die Teilnahme am gemeinsamen europäischen Raketenabwehrschild Skyshield, sondern vor allem durch die EU-Solidaritätsklausel wurde der Spielraum der Neutralität aus juristischer Sicht aber ohnehin sehr weit ausgereizt. Manche Völkerrechtler argumentieren gar, dass die Neutralität mit dem per Volksabstimmung abgesegneten EU-Beitritt ohnehin passé ist – Ausnahmebestimmungen wie der berühmten „irischen Klausel“, einem Passus in EU-Verträgen, der nationale Sonderwege in sicherheitspolitischen Fragen ermöglicht, zum Trotz.

In Wien will man sich das (noch) nicht eingestehen. Eine Neutralitäts-, Sicherheits- und Verteidigungsdebatte vermochte nicht einmal die Eskalation des Ukrainekrieges so richtig loszutreten. Erst ein Angriff auf einen EU-Staat und die Ausrufung der Solidaritätspflicht aus den EU-Verträgen würde Österreich wohl wirklich dazu auffordern, sich dieser Diskussion rasch und konsequent zu stellen. Bis dahin versucht die Alpenrepublik, sich weiter durchzuwursteln.

Man scheint zu hoffen, dass die Partner durch anderweitiges Engagement, etwa im Rahmen von UN-Friedensmissionen oder dem konsequenten Abnicken jeder EU-Sanktion gegen Russland, besänftigt werden können. Ja, sogar bei der Finanzierung von Waffenlieferungen an die Ukraine im Rahmen der sogenannten Europäischen Friedensfazilität fand man eine sehr österreichische Lösung. Das Konzept der „konstruktiven Enthaltung“ sieht vor, dass die Vertreter Österreichs einfach aus dem Raum gehen, wenn über das Thema abgestimmt wird. Somit werden die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht blockiert und Österreichs Spitzenpolitik kann sich weiterhin rühmen, die militärische Neutralität nicht verletzt zu haben.

In Minischritten wurde Österreich zuletzt also doch etwas mutiger gegenüber Russland. Politisch sei man sowieso nie neutral gewesen und habe den russischen Angriffskrieg bei jeder Gelegenheit scharf verurteilt, heißt es immer am Ballhausplatz, dem Sitz des Bundeskanzleramtes. Das ging so weit, dass selbst der Kreml Österreich belächelte, als man sich zu Kriegsbeginn als neutraler Vermittler für etwaige Friedensverhandlungen anbot. Österreich sei längst keine neutrale Partei mehr, sondern Teil des „EU-Blocks“, sprach der Kreml aus, was in Wien noch nicht alle wahrhaben wollen.

Einer gewissen Sonderbehandlung durch Moskau zum Trotz – Österreich wurde bisher beispielsweise von Sabotageakten verschont, Bundeskanzler Nehammer besuchte Putin nach Kriegsbeginn in Moskau – setzte Wien auch eine Klage gegen die russische Gazprom durch, weil die teilstaatliche OMV, Österreichs größter Energieversorger, durch den russischen Gaslieferstopp via Nord Stream auch bei ihrem Geschäft in Deutschland Einbußen erlitt. Auf die Schadensersatzforderung von 230 Millionen Euro folgte prompt die Ankündigung eines Lieferstopps durch Moskau. Weil Österreich und Europa ihre Versorgung zuletzt aber insgesamt stärker diversifizierten, blieb die große Angst in Wien aus. Und vorerst scheint Russland auch weiter Gas zu liefern, zumindest zum Weiterverteilen via Österreich, weil es die Rubel braucht.

Vielleicht zeigt dieses Kapitel, dass Österreich aus geopolitischer Sicht weniger Angst vor Moskau haben müsste, als es manchmal hat. Im Dezember wurde nun der Langfristvertrag mit der russischen Gazprom gekündigt. Ob daraus der Mut entspringt, zumindest einer der heiligen Kühe des Landes, der Neutralität, das Messer anzusetzen?

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