Die Frage nach dem Zeitpunkt kann derzeit ganz gut beantwortet werden. Die ukrainische Gegenoffensive hat bereits begonnen. In Bachmut macht die ukrainische Armee leichte Gewinne, sie attackiert die Versorgungslinien der russischen Streitkräfte. Gleichzeitig haben separatistische Gruppen die russische Stadt Belgorod angegriffen. Ob es sich dabei um eine ukrainische Mission handelt, ist umstritten. Klar ist jedoch, dass es die russische Armee empfindlich stört, wenn das Hinterland keine sicheren Aufmarschplätze und Versorgungslinien bietet. Dass Belgorod und Bachmut aber wirklich die Hauptschauplätze der Offensive sind oder sein werden, ist unwahrscheinlich. Bachmut ist massiv gesichert. Russland hat seine Verteidigungsstellungen ausgebaut. Ein Angriff an anderer, schwächerer Stelle ist deshalb zumindest denkbar. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagt, die Offensive „läuft bereits“. Das Ziel soll nicht nur sein, auf regulärem Weg Gebiete zu gewinnen, die Ukraine möchte die russischen Soldaten in Panik versetzen und sie zur Flucht bewegen. Auch die Gegenseite bestätigt, dass sich die Aktionen der ukrainischen Truppen nicht mehr nur auf die Verteidigung beschränken. Söldnerchef Prigoschin meint, „die ukrainische Frühjahrsoffensive hat schon begonnen“. Die Armee der Ukraine sei äußerst aktiv – auch jenseits der Front. Westliche Militärexperten wie Markus Reisner bestätigen, dass die Ukraine ihre Flugabwehrsysteme in die Nähe der Front verlegt. Sein Kollege Burkhard Meißner vom German Institute for Defence and Strategic Studies bestätigt, dass etwa 40.000 bis 60.000 Mann zusammengezogen werden, die im Westen ausgebildet wurden und nun zum Einsatz kommen sollen. Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, veröffentlichte vor drei Tagen ein Video, dass ukrainische Soldaten zeigt, die ihren Eid ablegen und sich auf den Kampf vorbereiten. Sein Kommentar: „Die Zeit ist gekommen, zurückzuholen, was uns gehört.“ Manche Einschätzungen haben sich aber auch als falsch erwiesen. „Wir können für Mitte April eine ukrainische Gegenoffensive mit westlichen Panzern erwarten“, sagte Militärökonom Marcus Keupp von der Militärakademie der ETH Zürich der Neuen Zürcher Zeitung noch vor einem Monat. Die große Panzeroffensive ist bis jetzt jedoch ausgeblieben. Auf der anderen Seite erhöht Russland seine Verteidigungsmaßnahmen vor allem dadurch, eine extrem große Zahl an Landminen zu legen, sagt Michael Newton vom HALO Trust, einer Organisation zur Minenräumung. Laut Oleksiy Danilow, dem Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheitsrates, wird die Entscheidung zur Einleitung einer Gegenoffensive erst im allerletzten Moment getroffen. Für die große Gegenoffensive hat die Ukraine Waffen im Wert von mehr als 30 Milliarden Dollar erhalten. Die Waffenlieferungen begannen im Dezember. Die Ukraine müsste dadurch deutlich bessere Ausrüstung haben, die russische Armee verfügt dagegen über mehr Truppen. Bei ihrer letzten großen Offensive westlich von Charkiw und bei Cherson hat die ukrainische Armee darauf gesetzt, dort anzugreifen, wo es die wenigsten vermuteten. Vielleicht bleibt die Führung bei dieser Strategie, vielleicht ist es aber auch überraschender, genau das Gegenteil zu tun.