Seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine registrierten Strafverfolgungsbehörden 101.543 Fälle vermisster Personen. Davon konnten die meisten wieder aufgefunden werden. Bis Mai 2023 ist der Aufenthaltsort von 23.760 Menschen ungeklärt, wie der stellvertretende ukrainische Innenminister, Leonid Tymchenko, sagt
Mykyta Businow, 26 Jahre alt - seit einem Jahr und drei Monaten vermisst.
Seit dem 4. März 2022 ist der Aufenthaltsort des 26-jährigen Mykyta Businow unbekannt. Am ersten Tag des russischen Angriffskrieges, fuhr Mykyta gemeinsam mit seiner Braut, seiner Mutter und seinem Bruder zum 15 Kilometer von Tschernihiw entfernten Dorf Mykhailo-Kotsyubynske. Sie nahmen an, es sei sicherer als im ständig beschossenen Tschernihiw. Dennoch wurde das Dorf ein paar Tage nach ihrer Ankunft von der russischen Armee besetzt.
Foto aus dem Archiv Mykytas Braut
“Das russische Militär kam, um unsere Dokumente und Telefone zu überprüfen. Sie brachten uns nach draußen und richteten ihre Waffen auf uns" – erzählt Mykytas Bruder Volodymyr. Und berichtet weiterhin: “Dann wurden meine Mutter und ich in den Keller gebracht, während mein Bruder verhört wurde. Nach 15 Minuten brachten sie mich raus, setzten mich in der Nähe des Zauns auf die Knie, bedrohten mich mit einer Waffe und schossen neben mich. Danach wurden meine Mutter und ich zum Haus zurückgebracht. Unterwegs sahen wir Mykyta, der auf den Knien lag. Er war am Leben!".
Nachdem das russische Militär Mykyta und sieben weitere Dorfbewohner mitnahm, fuhren sie in unbekannte Richtung davon. Die Familie begann daraufhin, nach der Suche des Jungen. Einheimische erzählten ihnen davon, wie sie gesehen hätten, wie die Russen den Männern Säcke über die Köpfe stülpten, um sie anschließend in Keller und Scheunen zu stecken, wo sie gefoltert wurden.
Als die Familie das damalig besetzte Gebiet verließ, begann sie, bei ukrainischen und internationalen Vereinigungen und Organisationen nach den Vermissten zu suchen. So richteten sie ihre Anfragen auch an russische Haftanstalten.
„Russland hat ein automatisiertes System, das es erlaubt, mit einem Brief jede Haftanstalt erreichen zu können. Wir versuchten über die Medien an Informationen darüber zu kommen, wo ukrainische Gefangene festgehalten werden und schickten dorthin ebenfalls unsere Anfragen. Ein Brief traf im Internierungslager Nr. 3 in Belgorod ein. Das System funktioniert automatisch, das heißt, wenn in der Datenbank keine Daten über Mykyta vorhanden wären, würde unser Brief dort nicht ankommen. So hatte unsere Nachricht den Status „Weitergeleitet anEmpfänger“. Eine Antwort bekamen wir von da nicht” – wie uns Volodymyr berichtet.
Die Familie aber gibt nicht auf. In Russland fanden sie einen Anwalt, der sich bereit erklärte das Internierungslager zu besuchen. Dort konnte er allerdings nur in Erfahrung bringen, dass es eine solche Person vor Ort nicht gibt.
Zusammen mit Mykyta wurden im Mai 2022 sieben weitere Bewohner des Dorfes verschleppt. Davon bekannt ist bisher allerdings nur eine Person – seine Leiche wurde nach der Befreiung des Dorfes Mykhailo-Kotsyubynske im Wald in einem russischen Schützengraben gefunden. Nach den Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Untersuchung wurde der Mann gefoltert und anschließend durch einen Kopfschuss getötet.
Volodymyr Buzinov, der Bruder des vermissten Mykola, nimmt an, dass die Russen Zivilisten gefangen nehmen, um die Ukrainer:innen moralisch zu destabilisieren. Damit würden sie gegenüber der russischen Aggression weniger Widerstand leisten. Zudem betrachten sie es als Druckmittel, , um ihr Militär zurückzubekommen.
Ihor Talalay, 26 Jahre alt - verloren und doch gefunden.
Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurden mit Beginn der groß angelegten Invasion 140 Zivilisten aus russischer Gefangenschaft befreit. Unter ihnen ist der 26-jährige Ihor Talalay.
Foto von Yurii Tynnyi
Zu Anfang des Krieges evakuierte er Bewohner:innen Mariupols, welches bereits durch Russen besetzt wurde. Der junge Mann wurde auf dem Rückweg aus der Stadt vom russischen Militär an einem Kontrollpunkt gestoppt und aufgehalten. Inna Talalay, Mutter von Ihor, wusste nicht, dass er nach Mariupol ging. Als ihr Sohn ihre Anrufe nicht mehr beantwortete, veröffentlichte sie eine Vermisstenmeldung in den Sozialen Medien.
Dort wurde sie von Menschen kontaktiert, denen Ihor dabei half, Mariupol zu verlassen. So erfuhr die Frau von der russischen Gefangennahme ihres Sohnes. Der genaue Aufenthaltsort blieb jedoch ungewiss. Einen Monat nach seinem Verschwinden dann der Anruf einer unbekannten Person aus dem von Russen besetzten Donezk, in dem Ihors Mutter mitgeteilt wurde, dass Ihor sich in einer Strafkolonie unweit des Dorfes Olenivka in der Region Donezk befinde.
Später tauchte Innas Sohn auf einem Video auf, das ihn in der Kolonie zeigte. Sein genauer Aufenthaltsort blieb jedoch unklar. Nach 88 Tagen in der Kolonie brachten die Russen Ihor zur sogenannten "Filterung". Danach gelang ihm endlich die Rückkehr zurück nach Hause.
“Die Russen schlugen mich und drohten mit meiner Erschießung. Sie warfen mich in den Keller. Dort Versammelten sich tagsüber etwa 30 Leute, die sie ebenfalls festnahmen. Dann wurden wir in das Bezirksbüro nach Mangusch, ins Donezker Gebiet gebracht., Eingesperrt in eine Zelle, mussten wir aufgrund des Platzmangels im Stehen schlafen. Mitarbeitende der russischen Behörde zur Bekämpfung organisierter Kriminalität brachten uns nach Donezk – wo wir körperlich und seelisch misshandelt wurden. Sie fesselten unsere Hände und Augen und schlugen uns mit dem Kolben eines Maschinengewehrs.”. So schildert uns Ihor seinen Aufenthalt in russischer Gefangenschaft.
Vitaliy Sentschenko, 22 Jahre alt und verschwunden.
Auch Angehörige des ukrainischen Militärs sind an der Suche von Vermissten beteiligt. Oksana Latanska sucht seit mehr als einem Jahr nach ihrem 22-jährigen Sohn Vitaliy Sentschenko. Er verschwand zusammen mit anderen Kämpfern der ukrainischen Nationalgarde in Mariupol.
Foto von Yurii Tynnyi
„Wir sehen uns dutzende Videos im Internet an, die den Abzug der Mariupol-Garnison aus Asowstal zeigen. Jeder sieht sich Bild für Bild an, ob eine vermisste Person darauf auszumachen ist. Wir überwachen russische Quellen, die Fotos und Videos von Gefangenen veröffentlichen. Wenn dann die Angehörigen kontaktiert werden, erzählen sie uns von den Gesprächen mit ihnen. Als mein Sohn anrief, fragte ich ihn zuerst, wie es ihm gehe und wer noch bei ihm sei. Wir erhalten damit auch Informationen von denen, die bereits aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind. Wir zeigen ihnen Fotos unserer Verwandten und fragen, ob sie sie gesehen haben.” So erzählt es die Mutter von Vitaliy.
In der Ukraine gibt es eine Reihe von Stellendie Informationen über vermisste Personen sammeln und verarbeiten, beispielsweise der nationale Sicherheitsdienst, die nationale Polizei, das nationale Informationsbüro des Ministeriums für Integration. Der Beauftragte für Vermisste unter besonderen Umständen koordiniert diese Stellen und erstellt ein einheitliches Register vermisster Personen und Kriegsgefangener.
Im Jahr 2023 wurde das Register in der Ukraine eingeführt, um nach vermissten Bürger:innen zu suchen. Nach Angaben des Ministeriums für Integration werden dort Daten über vermisste Personen gesammelt und zentralisiert, darunter Merkmale wie: Name, Geburtsort und -datum der Person, Familienstand, Anschrift, Ort, an dem die Person verschwand, sowie Umstände und Zeitpunkt des Verschwindens.
Yadviga Losynska, Leiterin der öffentlichen Organisation rund um die Vereinigung Angehörigen vermisster Personen „Nadia“, meint, um effektiv vorgehen zu können, nieren, sollte es sich dabei um mehr als nur eine Liste vermisster Personen handeln.
Sie sagt: „Wenn eine Person verschwunden ist und zehn weitere mit ihr, dann sollte es sich dabei um einen gemeinschaftlichen Vermisstenfall handeln. Wenn es sich dabei um einen Fall aus dem Militär handelt, sollten nicht die Angehörigen einen Antrag stellen, sondern die Militäreinheit selbst Informationen über das Verschwinden einreichen. Schließlich hat nicht jede Familie oder die Verwandten sind möglicherweise im Ausland oder im vorübergehend besetzten Gebiet und haben dementsprechend keine Möglichkeit, einen Antrag zu stellen.“
Sie selbst ist seit 2014 auf der Suche nach ihrem Sohn Andriy Losynskiy. Dieser verschwand in der Nähe von Starobeschewo, als er Ilovaisk verließ. Ihre Bemühungen gab sie über all die Jahre nicht auf.
Foto aus dem Yadvigas Losynska Archiv
Für eine effektivere Suche Vermisster sollte ihrer Meinung nach eine spezielle Militärpolizei geschaffen werden, deren Kompetenz ausschließlich darin besteht, Daten vermisster Personen zu beschaffen und zu systematisieren.