In der Region Donezk gibt es Dörfer, in denen kein Haus unbeschädigt ist. Manche sind zerstört, in manchen sind lediglich die Fenster zersprungen. Auf der einen Seite fahren Panzer, auf der anderen schießt die ukrainische Artillerie und im Nachbargarten stehen zwei Soldaten und beobachten mit Ferngläsern den Himmel, neben ihnen ein Flugabwehrsystem. Die Artillerie schießt alle zehn Sekunden und in der Ferne ist das Feuer von Sturmgewehren zu hören.
Wenn der Krieg in ein Dorf kommt, flüchten Menschen gewöhnlicherweise. Es gibt aber auch einige wenige, die bleiben. Sie wohnen genau jetzt neben nicht explodierten Fliegerbomben und verminten Feldern. Was hält diese Menschen in dieser lebensbedrohlichen Gegend?
Diese Frau ist die Kontaktperson der Hilfsorganisation. Sie führt das Team zu den letzten Gebliebenen von Fedorivka.
Wir sind westlich von Fedoriwka. Das Dorf hatte vor dem Krieg 400 Einwohner:innen. Heute sind es noch etwa zehn. Wir fahren mit zwei Kleinbussen und einem Geländewagen ins Dorf. Die letzten Bewohner kommen aus ihren Häusern, weil sie wissen, dass sie jetzt Nahrung, Kerzen und Batterien bekommen.
Wir treffen Oleg und Nastia. Sie wohnen beide eigentlich gar nicht in diesem Haus, denn das wurde bereits zerstört. Sie sind in ein weniger beschädigtes Haus gezogen und kümmern sich um die Tiere.
In der Wohnung nebenan lebt eine Frau namens Rascha. Sie ist aber nicht allein. Sie wohnt dort mit drei Kindern und ihrer Mutter. Die Ersthelfer sind erstaunt, dass hier jemand mit Kleinkindern lebt. Sie versuchen die Frau zu überreden, sich evakuieren zu lassen. Erfolglos.
Menschen kommen aus ihren Häusern und wollen Hilfsgüter bekommen.
Sie wurde bereits zweimal evakuiert und ist immer wieder zurückgekommen. Warum? Ihr fehlt das Geld, um an woanders zu leben, die Mutter will das Dorf nicht verlassen, deshalb bleibt sie. Je länger die Ersthelfer reden, desto mehr Gründe fallen Rascha ein. Sie hat Angst davor, dass ihr Haus zerstört wird, wenn sie nicht bleibt.
Auch sie lebt nicht in ihrem Haus, sondern in dem ihrer Mutter. Ihr eigenes Haus wurde vor drei Wochen bei einem Luftangriff zerstört. Wovon lebt diese Familie? Die letzte Hilfslieferung kam im Oktober an. Die letzten fünf Monate hat sie sich ausschließlich von den Erzeugnissen ihren Gartens und von Eingelegtem ernährt.
Auf dem Sportplatz liegt eine nicht explodierte Fliegerbombe
Die Familie lebt ohne Strom, aber Internet bekommt Rascha von den Soldaten. Starlink ist nach wie vor eine wichtige Organisation für die Ukraine. Smartphones werden jedoch immer nur kurz angeschaltet.
Ein Krater auf dem Sportplatz
Ein Dorf weiter kommen sechs Menschen herangelaufen, als sie merken, dass unsere Busse eintreffen. Das passiert hier immer wieder. Die Hilfsbusse kommen und die Menschen gehen automatisch vor die Tür und folgen uns.
Ich stelle immer wieder meine Frage: Warum flieht ihr nicht? Warum bleibt ihr im Kriegsgebiet? Dieses Paar antwortet, dass sie ihr ganzes Leben hier verbracht haben, dass sie sich fürchten, an einem anderen Ort nicht willkommen zu sein, und vor allem, weil sie ihre Tiere nicht allein lassen wollen.
Wollen nicht gehen, weil sie ihr leben lang in ihrem Dorf Sviato-Porovske verbracht haben.
Das Team übergibt einen halbe Busladung an Hilfsgütern an die beiden und bittet darum, dass sie sie im Dorf verteilen. Das ist aber keine aktive Aufgabe. Man muss hier nicht rumlaufen, um die Güter zu verteilen. Die verbliebenen Dorfbewohner von Zvaniwke stehen bereits am Gartenzaun und warten, etwas abzubekommen.
Die ersten Bewohner:innen von Sviato-Porovske gehen wieder nach Hause.
Neues Dorf, gleiches Bild. Unsere drei Fahrzeuge treffen ein, die Dorfbewohner kommen raus und wollen die Hilfslieferung entgegennehmen. Wieder stelle ich meine Frage und wieder bekomme ich die gleiche Antwort. Die Tiere würden sonst sterben. Auch hier leben die Menschen nicht mehr in ihren eigenen Häusern.
Tatjana ist in ein neues, einigermaßen unbeschädigtes Haus gezogen und hat hier alle Tiere des Dorfes versammelt. Sie selbst lebt nicht im Haus, sondern im Gartenkeller. Sie führt uns in den Garten und zeigt uns die Krater der Raketeneinschläge.
Diese Leute versorgen die Tiere des Dorfes Serebrianka
Einmal war sie im Holzklo, während die Raketen im Garten einschlugen. Sie dachte, dass sie nun auf der Toilette sterben würde. „Manchmal muss man Glück haben, im richtigen Moment aus dem Bunker zu kommen“, sagt sie.
Am Ende unseres Besuches nimmt Tatjana eine Katze auf den Arm und sagt: „Die Tiere sind gestresst, aber sie sind jetzt meine neue Familie und dieses Dorf ist meine Heimat.“
Tetjana nennt ihre Tiere ihre Familie
Tiere als Motiv
Was hält nun also Menschen im Krieg? Warum gehen Sie das Risiko ein, getötet zu werden? Wir haben noch einige weitere Leute im Kriegsgebiet interviewt und eine Antwort überraschend oft erhalten: Die Tiere. Fast alle Menschen, die an der Front leben, berichten davon, dass sie ihre Tiere schützen wollen, dass sie sie ernähren wollen und dass sie keine Chance sehen, bei einer Evakuierung alle Tiere mitzunehmen.
Oft versorgen sie auch die Tiere der Nachbarn und das sind nicht nur Hunde und Katzen. Viele Ukrainer:innen betreiben Subsistenzwirtschaft. Sie essen, was sie selbst anbauen und ernten. Zum Hinterhof in ukrainischen Dörfern gehören oft auch Ställe, für Enten, Schweine, Hühner und Gänse.
Wer vom Ertrag seiner eigenen Scholle abhängig ist, der ist immobil, kann sich schlecht vorstellen, wovon man an einem anderen Ort leben soll und ob man überhaupt willkommen ist, wenn man nichts mitzubringen hat.
Verwurzelung als Motiv
Erst an zweiter Stelle kommen Antworten, die ich dem Stolz, oder anders formuliert, einem Prinzip zuordnen würde. Wer im Kriegsgebiet bleibt, macht das, weil es eben die Heimat ist, weil die Verbundenheit mit der Heimat sehr groß ist. Die Menschen sagen immer wieder, dass sie hier geboren wurden und nie woanders gelebt haben. Leute, die gerade erst vor dem Krieg in ihr Dorf gezogen sind, haben wir kein einziges Mal getroffen. Verwurzelung ist ein Motiv.
Blick durch den Gartenzaun
Lange habe ich gedacht, dass die Menschen hier eine verschobene Wahrnehmung der Gefahr haben. Ob sie eventuell das Risiko falsch einschätzen. Das glaube ich nun nicht mehr. Die Leute haben ihre Nachbarn beerdigt, die zerstörten Häuser gesehen. Sie wissen, dass es sie jederzeit treffen kann. Sie wissen, dass einige Raketen nur wenige Meter neben ihnen einschlugen. Warum bleiben sie dennoch?
Meiner Einschätzung nach treffen diese Menschen eine Abwägung zwischen Risiko und Nutzen. Das machen auch die meisten anderen Menschen in Nichtkriegsgebieten, wenn sie mit einem PKW auf der Landstraße fahren. Sie wissen, dass es Verkehrstote auf Landstraßen gibt und dennoch fahren sie immer wieder auf Landstraßen. Es ist nützlicher, als dass es ihnen Angst macht. Das Risiko wird hingenommen.
Eine ähnliche Abwägung treffen Menschen in Kriegsgebieten. In ihrer Heimat zu bleiben erscheint ihnen nützlicher, als dass es ihnen Angst macht, getötet zu werden. Sie nehmen das Risiko hin und sie sind dabei genauso wenig lebensmüde wie die Leute, die auf der Landstraße fahren.
Wir fahren aus dem Kampfgebiet. Zurück nach Isjum. Die Stadt ist in weiten Teilen zerstört, aber das Leben ist zurückgekommen. Die Lokalzeitung Obri druckt wieder, ein Telefonanbieter verkauft SIM-Karten auf dem Marktplatz und Nachrichten ertönen aus Lautsprechern. Vor der Stadt befindet sich der kleine Ort Kaminka. Ein Geisterdorf, ähnlich wie Bohorodytschne. Aber: Wir sehen einen Menschen. Eine Frau Namens Tetiana bewohnt einen kleinen Teil ihres zerstörten Hauses.
Im Gespräch kommt heraus, sie war nie weg. Sie hat den Krieg mit ihrem Bruder im Keller verbracht und abgewartet. Die russische Artillerie hatte fünf Geschütze direkt in Kamjanka aufgestellt. Der Ort wurde deshalb von ukrainischer und russischer Seite beschossen. Heute sind alle Häuser zerstört oder beschädigt. Um die zehn Häuser wurden nach dem Gefecht mit einer blauen Plane abgedeckt. Ein Zeichen dafür, dass die Menschen ihre Häuser retten wollen.
Tetjana aus Kamjanka will ihr Haus wieder aufbauen und sogar eine Veranda bauen
Tetiana war Lehrerin und lebt heute von ihrem Garten. Auch sie frage ich, warum sie in diesem zerstörten Haus, in diesem zerstörten Dorf wohnt. Sie zeigt auf ihren Garten und antwortet mir überraschenderweise auf Deutsch: „Das ist meine Erde.“
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