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Charkiw ist die Stadt der Drucker.
Zumindest war sie das einmal. Als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte, war die Millionenstadt im Osten des Landes eines der ersten Ziele. Ein Teil der Bevölkerung hatte sich in den vergangenen Jahren prorussisch gezeigt. Eine Eroberung der Stadt schien einfach zu sein. Zumindest aus Sicht des russischen Militärs. Heute ist klar: Das war eine Fehleinschätzung.
Die ukrainische Armee gab die Stadt trotz der russischen Übermacht nie auf und gewann die Schlacht um Charkiw schließlich. Russlands Truppen zogen sich zurück und hinterließen mehr als 1.100 zerstörte Gebäude, davon knapp tausend Wohnhäuser, wie Bürgermeister Ihor Terechow Ende März erklärte. Die Zerstörung ist allgegenwärtig. Viele Gebäude stehen nur noch zur Hälfte, andere haben keine Fenster und wurden notdürftig mit Holzplatten vernagelt. 600.000 Menschen sind geflohen. Die Industrie wurde weitgehend heruntergefahren.
Tatyana Grinyuk leitet Faktor Druk, ein riesiges Druckhaus, das vor der Invasion über 400 Mitarbeiter hatte und jährlich 1,5 Millionen Bücher produzierte. Auch sie musste ihren Betrieb dichtmachen. Nicht nur sie, mit ihr auch alle Mitbewerber in der Stadt.
Charkiws Druckmaschinen stehen still.
Ein Teil der Mitarbeiter ist geflohen, ein anderer Teil wurde eingezogen oder hat sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet. „Die kämpfen jetzt an der Front“, sagt Grinyuk abgeklärt. Der Satz geht mir noch lange im Kopf herum. Auch ich habe Mitarbeitende bei KATAPULT. Die Vorstellung, so einen Satz sagen zu müssen, erinnert mich daran, in welchem Ausnahmezustand sich dieses Land befindet – überall. Der Krieg durchdringt die Gesellschaft lückenlos.
Eine andere Druckerei in Charkiw wurde von der russischen Artillerie getroffen. Das Druckhaus ist zerstört. Verletzt wurde niemand. BET-Typografie hat bis heute nicht wieder aufgemacht. Grinyuk dagegen hatte Glück: Ihr Unternehmen blieb verschont. Das Druckhaus wurde trotz der schweren Kämpfe nicht beschädigt.
Die russische Armee ist noch nicht weit weg, die russische Staatsgrenze auch nicht, der Krieg ist hart wie immer, er wird ein paar Kilometer östlich weitergeführt. Und trotzdem trifft Grinyuk eine mutige Entscheidung: Sie ruft ihre verbliebenen Mitarbeitenden an. Faktor Druk fährt seine Maschinen wieder hoch.
Von den 400 Arbeitskräften kommen 100 zurück nach Charkiw, zurück in die Druckerei. Die 10.000 Quadratmeter Betriebsgelände waren früher zu klein für Faktor Druk. Heute ist genug Platz. Ein Dutzend Arbeiter steht auf dem Firmengelände zusammen und raucht. Früher wurde 24 Stunden am Tag gedruckt. Derzeit gibt es keinen Schichtbetrieb. Die Aufträge fehlen.
Was passiert eigentlich, wenn Druckereien dichtmachen? Dann bekommen Schulen keine Schulbücher mehr. Seit Februar lässt die Ukraine keine neuen Schulbücher drucken und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Die Regierung hat alle Aufträge gestrichen. Zu teuer. Das Militär hat Vorrang. Existenz vor Bildung. Das ist verständlich, aber auch besorgniserregend.
Die Hälfte der Kunden der Charkiwer Bücherschmiede kam früher aus Europa, die andere Hälfte aus der Ukraine. Wie sieht es heute aus? Einige ukrainische Auftraggeber sind wieder zurück. Die Nachfrage aus Europa ist jedoch komplett eingebrochen.
Niemand glaubt, dass man in Charkiw wieder drucken kann. „Wir drucken wieder und unsere Qualität ist auf westeuropäischem Niveau!“, sagt Grinyuk, greift in eine Bindemaschine und reicht mir ein Buch.
Ich begutachte es und kann keinen Unterschied zu anderen Büchern ausmachen. Die Qualität ist die gleiche. Wie sollte es auch anders sein. Die Druckmaschinen, die hier stehen, kommen häufig aus Westeuropa.
Auf der größten prangen groß und fett drei Buchstaben: MAN. Maschine aus Nürnberg, denke ich. Grinyuk ist stolz auf dieses Gerät. Es ist das größte seiner Art – die oberen Bereiche der Maschine ragen bis in die dritte Etage. Sie ist größer als zwei Einfamilienhäuser.
Gibt es hier auch russische Maschinen? Grinyuk und ihre Mitarbeiter gucken mich entsetzt an. Bisher wurde mir immer auf Ukrainisch geantwortet und dann von einer Dolmetscherin übersetzt. Diesmal kommt die Antwort ohne Umwege auf Englisch: „Not one!“ Bevor ich nachfragen kann, ergänzt die Geschäftsführerin: „Wir sind die größte Druckerei der Ukraine und wir brauchen nicht ein einziges Gerät aus russischer Produktion.“
Die 100 Arbeitsplätze sind vorerst sicher. Etwa 30 Leute arbeiten im Büro und 70 an den Druck-, Schneide-, Binde- und Klebemaschinen. Es gehe ihr auch darum, diesen Leuten wieder Arbeit zu geben, betont Grinyuk. Bevor wir uns verabschieden, zeigt uns ein Mitarbeiter stolz ein Gerät, das Druckplatten digital bedruckt. „Wir modernisieren an allen Stellen“, sagt er, „die Druckplatten laufen automatisch durch drei Bearbeitungsphasen.“
Wir müssen gehen. Die Zeit wird knapp. Mir werden noch schnell alle möglichen Bücher in die Hand gedrückt. Es gibt ein großes Bedürfnis, zu beweisen, dass die Qualität stimmt. Vielleicht sind die westeuropäischen Vorurteile ausgeprägter, als mir lieb ist, und ich bekomme jetzt die Folgen zu spüren.
Wir verabschieden uns und verlassen das Betriebsgelände. Eine Frage habe ich vergessen. Wenn man vom größten Land der Erde angegriffen wird, dachte ich, da muss man doch einen Plan B haben. Wenn eine Atommacht attackiert, dann liegt es doch auf der Hand. Wenn eine so viel größere Armee mit so viel mehr Waffen angreift, da muss einem doch durch den Kopf gehen, ob es wohl auch unter russischer Besatzung weitergeht mit der Druckerei.
Meine letzte Frage stelle ich also per Mail: Hatten Sie jemals das Gefühl, dass Sie irgendwann eine russische Druckerei sein könnten? Die Antwort kommt schnell und die dazugehörige Mimik kann ich zu 99 Prozent erahnen. „Niemals. Das steht außer Frage. Wir sind ein ukrainisches Druckhaus und Patrioten unseres Landes.“
Charkiw ist die Stadt der ukrainischen Drucker.
Alle Fotos von Jeka Kotenko
Autor:innen
studierte Politikwissenschaft und gründete 2022 KATAPULT Ukraine
Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)