Raketenabwehrsysteme im Angriffskrieg
Im Mai feuerte Russland 588 Raketen und iranische Drohnen auf die Ukraine ab
Von Галіна Остаповець | Galyna Ostapovets
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Während der Herbst-Winter-Luftangriffskampagne hat Russland die Ukraine tagsüber etwa zweimal im Monat mit 40 bis 80 Raketen beschossen. Von April bis Mai erfolgten die Angriffe jedoch nachts, wobei die meisten auf Kyjiw fielen. Bis zum 2. Juni 2023 hat die ukrainische Hauptstadt 21 Angriffe erlebt und außerdem erfolgreich abgewehrt.
Laut KATAPULT Ukraine gab Russland im Mai mindestens 1,3 Milliarden US-Dollar für die Raketen- und Drohnenkampagne aus. Nach dem Forbes Magazine wurde dabei berücksichtigt, dass eine Drohne 20.000 und 50.000 Dollar und eine Rakete zwischen 3 und 14 Millionen Dollar kostet. Diese Zahlen berücksichtigen jedoch nicht die ständigen Luftangriffe der Russischen Föderation an der Front.
Kyjiw und die Städte entlang der Frontlinie, wie Charkiw, Dnipro und Saporischschja, waren am stärksten betroffen. Laut dem litauischen Verteidigungsminister führten russische Truppen eine regelrechte Jagd auf das amerikanische Flugabwehrraketensystem Patriot durch, das Ende April in der Ukraine stationiert wurde.
Im Dezember des Vorjahres erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, dass Patriot ein ziemlich altes System sei, das nicht wie das russische S-300 funktioniert. „Lassen Sie sie installieren. Es wird immer ein Gegenmittel geben“, versprach er gegenüber russischen Journalist:innen.
Mit „Gegenmittel“ sprach er wohl von den russischen Hyperschallraketen “Kinzhal”, welches das Forbes Magazine auf Kosten von etwa 10 Millionen Dollar schätzt. Bisher gingen Expert:innen davon aus, dass kein Luftverteidigungssystem Raketen mit einer Hyperschallgeschwindigkeit abschießen könne. Einzig das amerikanische Raketenabwehrsystem Patriot galt in der Theorie als dazu fähig. Am 4. Mai bestätigte sich die Annahme dann auch in der Praxis. Laut dem Defense Express konnte erstmals eine russische Rakete des Typs "Kinzhal" über Kyjiw abgewehrt werden.
Zwei Tage später bestätigte dies auch das ukrainische Luftwaffenkommando in seinem täglichen Bericht. Rund zehn Tage später, in der Nacht des 16. Mai, starteten die Russen den bis dahin stärksten Raketenangriff auf Kyjiw innerhalb des Angriffskrieges. Gleichzeitig wurden 6 "Kinzhals", 11 ballistische Raketen, 10 seegestützte Marschflugkörper vom Typ Kalibr und mehrere im Iran hergestellte Angriffsdrohnen in die Hauptstadt der Ukraine geschickt. Die gesamte Stadt erlebte in dieser Nacht einen gewaltigen, 12-minütigen Luftkampf mit.
Letztlich konnte das ukrainische Luftwaffenkommando bestätigen, dass alle 26 russischen Raketen abgeschossen wurden. Die Streitkräfte erlitten weder Verluste noch Schäden. Am Tag nach dem Angriff behauptete das russische Ministerium, die hochpräzisen Raketen des Luftverteidigungssystem Patriot seien zerstört worden. Tatsächlich wurden jedoch nur leichte Schäden von ukrainischer und amerikanischer Seite bestätigt.
"Mit dem Patriot ist alles in Ordnung. So ist der Krieg. Manchmal kommt es vor, dass die gegnerische Seite Schäden verursacht. Allerdings hat sich die Funktionalität der Raketenabwehr bereits bewiesen. Der Patriot wird uns in Zukunft schützen. Wir wollen weitere solcher Systeme". So äußerte sich Yuriy Ignat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, in der Sendung zu einem Spendenmarathon für die Ukraine.
Am 29. Mai zeigte sich erneut die Effektivität des Raketenabwehrsystems, als dieses alle 11 ballistischen Iskander-Raketen über Kyjiw abschoss. Vorläufigen Angaben zufolge, hatten sie das Hauptquartier des Nachrichtendienstes, ebenso der Flugabwehranlagen von Kyjiw im Visier.
Warum haben die Russen die Luftangriffe auf die Ukraine wieder aufgenommen? Laut Analysten des American Institute for the Study of War (ISW) zufolge, umdie ukrainische Gegenoffensive zu schwächen.
"Die russischen Streitkräfte versuchen fast täglich, eine Reihe von Angriffen durchzuführen. Diese sollen zeigen, dass sie auf eine eventuelle ukrainische Gegenoffensive erfolgreich reagieren können. Um die ukrainische Luftabwehr zu überwinden, setzen sie weitgehend auf den Einsatz einer großen Anzahl iranisch hergestellter Shahed-Drohnen. Allerdings sind die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv bei der Abwehr der Drohnen. Die Verringerung der Angriffe beeinträchtigt die ukrainischen Fähigkeiten allgemein nicht wesentlich", betonten die Analyst:innen des ISW in ihrem täglichen Bericht vom 14. Mai.
Laut dem ukrainischen Luftfahrtexperten Valery Romanenko hatten die Raketen- und Drohnenangriffe Russlands keinen Einfluss auf die ukrainischen Vorbereitungen der Gegenoffensive. Die meisten Angriffe richteten sich gegen Kyjiw und wurden abgewehrt. Darüber hinaus lagern die Reserven und Ausrüstung der Streitkräfte nicht in der Hauptstadt.
Trotz russischer Angriffe auf Munitionslager, gilt die Angriffsfähigkeit der Ukraine als gewahrt.. Das Ausmaß des Schadens ist nicht ausreichend, sagte Romanenko in einem Kommentar gegenüber KATAPULT Ukraine.
Romanenko sagt weiter: "Gleichzeitig sollte man die Russen nicht als untalentiert bezeichnen. Für einen Angriff mit Shahed-Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen sei eine hohe Koordinationsfähigkeit notwendig. Dies erfordert zudem taktische Fähigkeiten im Umgang mit unterschiedlichen Annäherungsgeschwindigkeiten, Flugbahnen und Zielen.
Wir sollten den Verbündeten der Ukraine unsere Anerkennung zollen. Sie versorgen uns in Echtzeit mit Informationen sowie den neuesten westlichen Luftverteidigungssystemen, wie dem Patriot. Damit wird eine Trefferquote von 100 Prozent gegenüber ballistischen Zielen erreicht.”
Der Luftgefechte über Kyjiw entschied die Ukraine bisher für sich. Hochentwickelte NATO-Systeme der ukrainischen Luftverteidigung stehen russischen Präzisionswaffen, Funkelektronik und Aufklärungssatelliten gegenüber.
Dies beschreibt der bekannte ukrainische Militärjournalist Juri Butusow auf seiner Facebook-Seite. Laut ihm hat die ukrainische Luftverteidigung die überwiegende Mehrheit der russischen Raketen und Drohnen erfolgreich abgewehrt. Den Russen gelang es im Mai nicht, ein einziges Radar- oder Luftverteidigungssystem im Raum Kyjiw zu zerstören – das Hauptziel der Raketenangriffe.
Sowohl Butusow als auch andere ukrainische Militärexperten, unter anderem der militärisch-politischen Führung der Ukraine, sprechen von nicht enden wollenden Raketen- und Drohnenangriffe auf die Ukraine, solange Russland noch über genügend Raketen verfügt. Angesichts der hohen Dichte an Angriffen im vergangenen Monat plant die Ukraine, ihre Luftverteidigung weiter zu stärken. So könnte das Leben hunderter, wenn nicht tausender von Menschen gerettet werden.