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KATAPULT: In Ihrem Buch Auf der Suche nach den Barbaren schreiben Sie von der Erfindung der „Barbaren“. Woher stammt dieser Begriff?
Andrij Ljubka: Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist: Menschen, deren Sprache man nicht versteht. Die alten Griechen meinten, beim Sprechen fremder Sprachen nur „barbarbar“ zu verstehen. Daher die Bezeichnung Barbaren. Das Römische Reich als Militärimperium prägte mit der Eroberung unbekannter Gebiete und deren Völker das Wort als Kampfbegriff. Die Barbaren wurden als blutrünstig, grob, bärtig und mit Nadeln anstelle von Zähnen beschrieben.
Insbesondere die Vorstellung der Barbaren als Hosen tragend erschien den Römern damals als etwas völlig Schamloses. Das Bild der Barbaren erhielt auch eine politische Bedeutung. Dichter wie Ovid sorgten dafür, dass sich dieses negative Bild in der breiten Masse verfestigte. Die Dichter:innen spielten damals die Rolle der heutigen Massenmedien. In ihren Werken beschrieben sie die Barbaren als gefährliche und kulturlose Menschen, die damit zum Feind erklärt wurden.
Ihr Buch wurde aus der Perspektive eines Barbaren geschrieben?
Ja, denn ich bin selbst ein Barbar, weil ich aus Osteuropa stamme. In den Augen anderer Menschen muss ich ein Barbar sein, der am Rande einer großen Steppe lebt, eine andere Sprache spricht und auf Kyrillisch schreibt.
Seit Jahren ist das Hauptproblem der Ukraine der Blick Westeuropas auf uns und wie wir uns selbst dadurch wahrnehmen. Darum geht es auch in diesem Krieg: Es ist der Versuch, aus Osteuropa nach Mitteleuropa zu fliehen. Als ob wir beweisen müssten, dass auch wir Anspruch auf dieselben Rechte der westlichen Zivilisation haben. Der Westen barbarisiert den Osten schon seit mehreren Jahrzehnten. Aber: Das Selbstbild der Völker Osteuropas beruht auf der Idee des Transits.
Wir sind weder aus dem Westen noch aus dem Osten, wir liegen dazwischen. Wir sind die Brücke zwischen Europa und Asien. Für Bulgarien beispielsweise war die Türkei der Osten und sie selbst stellten die Verbindung zwischen den Osmanen und dem Westen dar, während Bulgarien in der EU bis heute noch als Osten angesehen wird. Auch die Ukraine galt lange als eine solche Pufferzone zwischen Russland und der Europäischen Union.
Die Ukraine nutzte dieses Konzept oft für sich, um eigene Mängel zu rechtfertigen. Das ist beispielhaft zu erkennen, wenn von Korruption im Land oder von Richtern, die ein unfaires Urteil fällen, die Rede ist und dies damit gerechtfertigt wird, dass sie eine Brücke zwischen Ost und West bilden. Für den Westen bedeutete es, dass alle Konflikte in der Ukraine ausgefochten werden und das Leben in der EU normal weitergeführt werden kann.
Wofür werden die Barbaren also benötigt?
Mir scheint, als brauchen alle Barbaren, um sich von „den anderen“ unterscheiden zu können. Hierbei geht es nicht um das antike Rom und um irgendwelche alten Zeiten. Auch derzeitige Geflüchtete aus Syrien gelten in Ungarn einem Großteil der Bevölkerung als Barbaren. Sie werden benötigt, um die eigene Gesellschaft zu mobilisieren und von eigenen Problemen abzulenken. Populisten sagen: „Die blutrünstigen Muslime sind hierhergekommen, um unser Leben und unsere Sprache zu zerstören, dagegen müssen wir uns verteidigen.“
Das Wort wird momentan auch oft in Bezug auf Russland verwendet. Ist das Land barbarisch geworden?
In meiner Kindheit waren Russen für uns keine Barbaren. Die Mehrheit glaubte, dass die russische Kultur der unseren überlegen sei. Aber mit dem Krieg änderte sich das Bild von Russland. Es hat sich bestätigt: Wir kannten Russland nicht. Gekannt haben wir das Ballett am Bolschoi-Theater aus dem Fernsehen, jetzt sehen wir Divisionen, die aus sehr armen Ortschaften in Russland kommen.
Unter den gefangenen und gefallenen Soldaten ist keiner aus Moskau oder Sankt Petersburg. Für die Ukrainer:innen war die Plünderung ihrer Privathäuser ein Schock. Selbst billigste Haushaltsgeräte oder Strumpfhosen, für die keine ukrainische obdachlose Person Verwendung finden würde, werden entwendet und nach Russland geschickt. Solche Dinge wurden früher nie mit Russland in Verbindung gebracht.
Die Mitglieder der russischen Armee und des KGB beziehungsweise FSB galten als kaltblütige Mörder, aber eine solch bittere Armut – dieses Bild Russlands war uns lange unbekannt. Die Gräueltaten der russischen Armee haben viele Menschen entsetzt. In Butscha, das unweit von Kyjiw liegt, haben viele Büroangestellte ihr Haus gebaut, um dort ihre Kinder großzuziehen.
Diese Menschen spielten für den Krieg keine Rolle, es war nicht nötig, sie zu töten. Butscha ist damit zu einem Wendepunkt geworden. Es wurde offensichtlich, dass die Barbarei rückständig ist, deren Auslöser die Korruption in der Armee und die Unterversorgung der Soldaten mit Kleidung und Essen sind. Russland wird nicht mehr als Großmacht angesehen. Ja, es ist stark, aber es wird nie mehr als allmächtig gelten.